Die Rückkehr des Wigalois. Eine Handschrift des 15. Jahrhunderts im Zentrum neuer Forschungsansätze

Die Rückkehr des Wigalois. Eine Handschrift des 15. Jahrhunderts im Zentrum neuer Forschungsansätze

Organisatoren
Sabine Griese, Universität Leipzig; Julia Freifrau Hiller von Gaertringen, Badische Landesbibliothek Karlsruhe; Christoph Mackert, Universitätsbibliothek Leipzig (Badische Landesbibliothek Karlsruhe)
Ausrichter
Badische Landesbibliothek Karlsruhe
Förderer
Wüstenrot Stiftung
Ort
Karlsruhe
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
23.06.2022 - 24.06.2022
Von
Julia Seibicke, Handschriftenzentrum, Universitätsbibliothek Leipzig

Die Handschrift Donaueschingen 71, eine bebilderte Abschrift des Romans „Wigalois“ des mittelhochdeutschen Dichters Wirnt von Grafenberg, die in einem berühmten Produktionszusammenhang, der sogenannten Lauberwerkstatt,1 entstanden ist, konnte 2018 aus Privatbesitz zurückgekauft und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Damit wurde Forschung am Original und an einem zeitgemäßen Digitalisat wieder möglich. Ein Ziel dieser internationalen und interdisziplinären Tagung war es, die Handschrift in ihrem Eigenwert zu bemessen und sie in ihren produktions- und sozialgeschichtlichen Kontext einzubetten, indem interdisziplinär verschiedene Aspekte des Codex betrachtet wurden.

Einige Vortragende beleuchteten, wie das Werk aus dem 13. Jahrhundert an die neuen Rezeptionsbedingungen eines anspruchsvollen, adeligen Publikums des 15. Jahrhunderts mit Kenntnis internationaler Handschriftenkultur angepasst wurde. Andere nutzten kodikologische und paläographische Methoden, um die Produktionsbedingungen und den Kontext der Produktion näher zu beleuchten. Alle Vorträge liefen auf ein ähnliches Fazit hinaus: Die Produktionskontexte um Lauber sind bei weitem komplexer, als es die Forschung bisher herausgestellt hat. Von der Vorstellung einer Werkstatt unter einem Dach, in der flüchtig und interessenlos Texte abgeschrieben und dann mechanisch und eilig Bilder eingefügt wurden, muss Abstand genommen werden.

SABINE GRIESE (Leipzig) befasste sich in einem close reading des Textes der Handschrift (auf der Grundlage einer in Leipzig erstellten Gesamttranskription) mit der Problematik einer möglichen Aktualisierung des Romantextes für ein Publikum des 15. Jahrhunderts. Lauber griff auf Literatur zurück, deren Sprachstand im 15. Jahrhundert noch verständlich war. Er passte den Text in eine vermutete Zielsprache ein, Schreibsprache ist das Elsässische, auch Änderungen im Text der Handschrift seien anzunehmen. Um diese zu beschreiben und mögliche Ursachen dafür zu benennen, fragte Griese nach der Textqualität und benannte Beobachtungen vor der Folie der Edition Kapteyns2. Sie urteilte, Donaueschingen 71 biete einen sinnvollen Text und wies auf minimale, oftmals witzige Anpassungen am Text hin. Dies seien keine Fehler, die Lauberhandschriften in der älteren Forschung so häufig vorgeworfen wurden, sondern sie bezeugen ein Bemühen um einen qualitätvollen Text. Griese fand außerdem Hinweise für eine Umarbeitung des Vorlesetextes zum Stilllesen. Als ein Argument dafür nannte sie die systematische Reduktion von Dreireimen, die akustisch und optisch ein Abschnittsende im Text signalisieren, zu den sonst im Text üblichen unmarkierten Paarreimen. Ein neuer Abschnittsbeginn im Text sei in Donaueschingen 71 meist nur optisch an Initialen und Rubriken zu erkennen.

MARGIT KRENN (Frankfurt am Main) beleuchtete die Handschrift aus kunsthistorischer Sicht. Auch für die 31 Bilder der Handschrift lassen sich bewusste Bearbeitungstendenzen feststellen. Krenn positionierte sich gegen die Meinung Ingeborg Hendersons,3 die in Donaueschingen 71 monotone, auf niedrigem Niveau ausgeführte Bildtypen sehe. Dies könne nämlich kaum den Ansprüchen des Publikums der „Lauberwerkstatt“ genügen. Krenn legte dar, dass die Bilder der „Wigalois“-Handschrift auf kulturelles Wissen referieren, und führte zwei Möglichkeiten für derartige Referenzen aus: Einerseits muten die Bilder mit ihren häufig formalen Szenen wie Standbilder, eine Technik des szenischen Spiels, an. Dabei hielten Personen auf einer Bühne ein Inszenierungs-Einzelbild für einen Moment lang fest. Gestellte Turnierszenen seien für solche Standbilder ein übliches Beispiel. Die Bildkompositionen in Donaueschingen 71 spiegeln dieses Medium. Andererseits seien auch die christliche Ikonographie und kulturell verankerte Bildtypen in diese Bilder aufgenommen worden. Die Verwendung aktuellster ikonographischer Muster spreche für die Modernität der Illustrationen. Damit belegte Krenn, dass die Bilder eine weitere Bedeutungsebene neben der des Textes eröffnen und keinesfalls beliebig eingefügt worden sind.

KATRIN STURM (Leipzig) und HEDWIG SUWELACK (Mainz) nutzten paläographische und kodikologische Untersuchungsmethoden zur Aktualisierung der lange Zeit nur auf Basis von Mikrofilm-Aufnahmen der Handschrift aus den 1980er Jahren entstandenen Forschung. Nachdem die „Wigalois“-Handschrift 1991 in Privatbesitz verkauft wurde, war sie bis zum Rückkauf 2018 nur über diese Aufnahmen einsehbar. Mit dem für die Öffentlichkeit zugänglichen Original und einem modernen Digitalisat konnten neben einer Lagenstruktur und einer Neudatierung auf um 1423 Bezüge zu anderen Handschriften aus der „Lauberwerkstatt“ erstellt werden. Das Papier, aber auch die Schreibhand waren in anderen Lauberhandschriften nachweisbar. Damit konnte Donaueschingen 71 dieser „Werkstatt“ nicht nur über die Bilder, sondern auch über das Material und die Schrift zugeordnet werden. Die intensive Besprechung der Schreibhand ermöglichte zudem eine Neueinschätzung des Werkstattbetriebs: Hatte Lieselotte Saurma-Jeltsch bereits 20014 die große Ähnlichkeit der Schriftbilder beschrieben, so wurde mit diesem Vortrag der Beweis dafür erbracht und belegt, dass bei Lauber ein Wille zur Gleichförmigkeit geherrscht und dass es ein Bemühen um Vereinheitlichung im Schriftbild gegeben hat und dass nicht etwa, wie von Saurma-Jeltsch noch behauptet, von „Gelegenheitsschreiber[n]“5 auszugehen sei, sondern von einer festen Gruppe professioneller Fachkräfte, die sich auf ein Corporate Design festgelegt haben.

Am zweiten Tag bewegte sich der Fokus von der einzelnen Handschrift weg und richtete sich auf die größeren Produktionskontexte, in denen Donaueschingen 71 entstand. CHRISTOPH MACKERT (Leipzig) besprach, wie wir uns die „Werkstatt“ um Lauber in Hagenau nördlich von Straßburg vorstellen müssen und knüpfte damit an Saurma-Jeltsch an, die das Konzept einer Werkstatt, in der über 50 Jahre unter einem Dach geschrieben und gemalt wurde, infrage gestellt hatte6. Mackert kritisierte, dass der Werkstattbegriff in der germanistischen Forschung häufig unreflektiert verwendet werde und eine eigene Mächtigkeit habe, obwohl eine Vielzahl von Organisationsmodellen möglich sei. Um die „Lauberwerkstatt“ zu beschreiben und Werkstattcharakteristika klarer zu fassen, untersuchte Mackert Handschriften aus der Randzone um Lauber auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur prototypischen Lauberhandschrift. Er beschrieb dabei drei Handschriften, deren Bilder auf die „Lauberwerkstatt“ verweisen. Sie seien jeweils einer der von Lauber bekannten Malgruppen zuzuordnen, doch andere Aspekte der Handschriften, wie die Kodikologie, die Schreibsprache oder etwa erwähnte Heiligenfeste, die im Unterelsass nicht relevant gewesen seien, verweisen auf andere Herstellungsorte. Die aufgrund der Bilder mit der „Lauberwerkstatt“ in Verbindung gebrachten Handschriften haben andere Entstehungskontexte. Wer bei Lauber malte, konnte also auch für Aufträge außerhalb der „Werkstatt“ herangezogen werden. Christoph Mackert (Leipzig) sprach sich deshalb gegen die Vorstellung einer einzigen festen Werkstatt und für ein ergänzendes Freelancer-System aus, zumindest für den mit diesen Handschriften zu fassenden Zeitraum zwischen 1440 und 1460.

MARTINA BACKES (Freiburg im Breisgau) betrachtete im letzten Vortrag der Tagung die „Lauberwerkstatt“' vor dem Hintergrund der deutschen und der französischen Handschriftenkultur. Sie benannte Unterschiede der Produktion und Rezeption von Handschriften im deutsch- und französischsprachigen Raum. Backes führte aus, dass französischsprachige Epenhandschriften auf der Materialebene allgemein konservativer erscheinen als deutsche: Sie verwenden noch sehr viel häufiger Pergament, das platzsparend beschrieben worden sei, während die Handschriften aus den Produktionskontexten um Lauber für ihre geradezu verschwenderische Verwendung von Papier in großen Formaten mit breitflüssiger Schrift und breiten Rändern bekannt seien. Auf inhaltlicher Ebene seien dagegen die deutschsprachigen Handschriften konservativer: Sie präsentieren die Versepen in ihrer alten Form, in Versen, während sie im französischsprachigen Raum vermehrt in Prosa übertragen wurden. Damit belegte Backes, dass das Programm der „Lauberwerkstatt“ sich deutlich von dem unterscheidet, was der französische Markt bot, und eine Marktlücke besetzte.

Auf der Basis dieser Ergebnisse wurde das Plenum unter der Moderation Sabine Grieses eingeladen, in einer Abschlussdiskussion offen gebliebene Fragen und zukünftige Aufgaben der Forschung zu besprechen. Ausgehend von Grieses Frage: „Was macht Lauber nach und was macht er neu?“, beschrieb Jens Haustein (Jena) beide Aspekte in Bezug auf Lauber: Das kulturelle Wissen und die ikonographischen Bezüge, auf die die Bilder referieren, seien zwar aus der Tradition bekannt, neu sei aber, diese Bildelemente auf Ritterromane anzuwenden. Damit rief er eine der zentralen Erkenntnisse dieser Tagung in Erinnerung: Bild und Text bauen Bedeutungsebenen auf, die einander kommentieren. Wie die verschiedenen Gewerke zusammenarbeiteten, betonte Jürgen Wolf (Marburg), sei nicht erforscht und eine dringende Aufgabe für zukünftige Untersuchungen. Mackert baute zukünftige Forschungsperspektiven weiter aus und sprach sich deutlich für eine weitere Öffnung der Lauberforschung in Richtung der Digital Humanities aus. Dies wurde besonders mit Blick auf Optical Character Recognition (OCR) von Handschriften diskutiert. Marcus Schröter (Freiburg im Breisgau) stellte eine Anwendung der OCR auf Donaueschingen 71 für das Handschriftenportal zur Diskussion. Julia Hiller von Gaertringen (Karlsruhe) sprach den Wunsch der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe aus, das Digitalisat mit Transkription zu präsentieren.

Eine Handschrift ins Zentrum einer Tagung zu stellen und sie interdisziplinär zu betrachten, zeigte, wie dringend fächerübergreifende Untersuchungen zur „Lauberwerkstatt“ nötig sind. Es wurde deutlich, dass die bisherigen Beschreibungsmodelle dieser „Werkstatt“ und Urteile über ihre Produkte nicht mehr standhalten. Für die Produktionskontexte um Lauber, in denen auch Donaueschingen 71 entstand, muss von einer Vielzahl an Organisationsmodellen ausgegangen werden. Der Text und die Bilder der Handschrift sind qualitätvoll und bewusst so gestaltet worden, wie wir sie heute vorfinden. Am Beispiel dieser Handschrift konnten veraltete Annahmen über die „Lauberwerkstatt“ widerlegt werden. Es wird die Aufgabe der zukünftigen Forschung sein, die gesamte „Werkstatt“ treffender zu beschreiben.

Konferenzübersicht:

Sabine Griese (Leipzig): Erzählung, Text und Textqualität. Der „Wigalois“ in der Handschrift Cod. Donaueschingen 71

Margit Krenn (Frankfurt am Main): Standbilder – szenische Interpretation des Wigalois in der Handschrift Cod. Donaueschingen 71

Katrin Sturm (Leipzig) / Hedwig Suwelack (Mainz): Die Handschrift in der Hand. Neue Erkenntnisse zur Entstehungs- und Besitzgeschichte der Donaueschinger Wigalois-Handschrift auf Grundlage ihrer Kodikologie

Christoph Mackert (Leipzig): Über die Grenzen der Werkstatt(phantasie). Zu zwei scheinbaren Lauberhandschriften in Straßburg und Ansbach

Martina Backes (Freiburg): Produktionsbedingungen und Rezeptionsinteressen. Die Romanliteratur des 15. Jahrhunderts im deutsch-französischen Vergleich

Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Donaueschingen 71, die „Wigalois“-Handschrift, entstand im Umfeld zweier zwischen 1409 und den 1470er Jahren tätiger Produktionskreise im Unterelsass, in denen bebilderte volkssprachige Handschriften nach einheitlichen Layouts entstanden. Lieselotte Saurma-Jeltsch bewertet diese nach festen Gestaltungsrichtlinien entstandenen Handschriften als „Markenartikel“. Die Produktionskreise werden übergreifend als „Lauberwerkstatt“ bezeichnet, eine Benennung, die einerseits auf die berühmten Werbeanzeigen zurückgeht, die der Schreiber Diebold Lauber einigen seiner Handschriften mitgab, andererseits auf die Annahme der Arbeit in einer geschlossenen Werkstatt. Heute sind etwa 100 Handschriften der „Lauberwerkstatt“ überliefert. Abgeschrieben wurden geistliche und weltliche Stoffe.
2 Vgl. Johannes M. N. Kapteyn, Wigalois der Ritter mit dem Rade von Wirnt von Gravenberc, Bd. 1: Text, Bonn 1926 (Rheinische Beiträge und Hilfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde).
3 Vgl. Ingeborg Henderson, Arthurian Iconography in 15th-Century German Manuscripts, in: Albrecht Classen (Hrsg.), Otfried von Weißenburg bis zum 15. Jh. Proceedings from the 24th International Congress on Medieval Studies, May 4–7, 1989 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 539), Göppingen 1991, S. 123–149; vgl. auch dies., Manuscript Illustrations as Generic Determinants in Wirnt von Gravenberg’s Wigalois, in: Hubert Heinen und Ingeborg Henderson (Hrsg.), Genres in Medieval German Literature (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 439), Göppingen 1986, S. 59–73.
4 Vgl. Lieselotte Saurma-Jeltsch, Spätformen Mittelalterlicher Buchherstellung. Bilderhandschriften aus der Werkstatt Diebold Laubers in Hagenau, Bd. 1, Wiesbaden 2001.
5 Ebd., S. 11.
6 Vgl. ebd.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger